Interview mit der Eßlinger Zeitung

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„Digitaler Tsunami ist in vollem Gang“

Liberalen-Landesvorsitzender: Herausforderungen stellen – Koalitionen nur bei Erfüllung zentraler Positionen

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Esslingen – Der Spitzenkandidat der FDP in Baden-Württemberg, Michael Theurer, legt Wert darauf, dass die Liberalen in möglichen Regierungskoalitionen ihre Inhalte in den Vordergrund stellen. Das Scheitern seiner Partei in der Bundestagswahl 2013 führt der 50-jährige frühere Horber OB und derzeitige Europaabgeordnete darauf zurück, dass sich die FDP damals bis zur Ununterscheidbarkeit an die CDU angeglichen habe.

Muss ein ehemaliger Bundes­präsident wie Christian Wulff Prokurist einer türkischen Modefirma werden, und ist in diesem Zusammenhang der Ehrensold noch zeitgemäß?

Theurer: Wenn es nach mir geht, nicht. Der Ehrensold soll verhindern, dass ein ehemaliges Staatsoberhaupt darauf angewiesen ist, dazuzuverdienen.

Zu Niedersachsen und zum Fall Stephan Weil und VW: Alles nur künstliche Aufregung oder hat sich ein Ministerpräsident ins Aus katapultiert?

Theurer: Die Nähe des Landes Niedersachsen als direkter Anteils­eigner zu VW ist hoch problematisch. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dass Niedersachsen seine Staatsanteile an VW verkauft, wie es die FDP in der Vergangenheit schon oft gefordert hat.

FDP-Bundesvorsitzender Christian Lindner hat am Wochenende die EU-Außenpolitik kräftig konter­kariert und die russische Okkupation der Krim ein dauerhaftes Provisorium genannt. Was halten Sie von diesem Vorstoß?

Theurer: Zunächst ist festzuhalten, dass Christian Lindner die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland betont hat. Insofern wäre er mit Sicherheit falsch verstanden worden, wenn seine Äußerungen als grundsätzliche Änderung der EU-Außenpolitik aufgefasst wird. Vielmehr geht es Lindner darum, dass wir die Dialog­fähigkeit mit Russland nicht aus den Augen verlieren. Für mich ist entscheidend: Die Annexion der Krim ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die FDP hat in ihrem Bundestagswahlprogramm klar beschlossen, dass Russland seine Einmischung dringend und sofort zu beenden hat.

Lindners Vorstoß wird weithin als Populismus und als Tabubruch gewertet. Was hat den FDP-Chef da geritten?

Theurer: Die „Welt“ hat geschrieben, „Lindner gibt den Genscher“. Richtig ist, dass die Bundesrepublik auch in den Zeiten der bipolaren Block-Konfrontation zwischen Nato und Warschauer Pakt sich dafür eingesetzt hat, im Gespräch zu bleiben. Vor diesem Hintergrund werte ich den Vorstoß von Christian Lindner so, dass er sagt, dass neben der Stärkung der Verteidigungsbereitschaft und der Verteidigungsfähigkeit der Nato und der Bundesrepublik der Gesprächs­faden mit Moskau wieder aufgenommen wird.

Der Dieselskandal zieht Kreise: Offenbar gab es ein Kartell von fünf deutschen Herstellern, selbst superteure Fahrzeuge wie ein Porsche Cayenne haben ohne Betrug die Werte nicht eingehalten. Hat der Dieselmotor überhaupt eine Zukunft?

Theurer: Die deutsche Automobilindustrie hat sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Wir fordern deshalb volle Aufklärung und Transparenz. Die Bundesregierung gibt ebenfalls keine gute Figur ab. Der Autogipfel war ein Flop. Wir brauchen dringend eine Zukunftsstrategie Auto. Die Dämonisierung des Diesels und des Verbrennungs­motors allerdings halte ich für falsch. Wir werden für lange Zeit ein Miteinander von Elektromobilität und Verbrennungsmotor brauchen.

Elektroautos gelten als die Fahrzeuge der Zukunft, China plant, Quoten einzuführen. Was ist da zu erwarten?

Theurer: Deutschland und Europa sind beim Verbrennungsmotor weltweit Technologieführer. In der aktuellen Diskussion wird unterbelichtet, dass beim Diesel und beim Benzinmotor im Bereich des Umweltschutzes große Fortschritte erzielt wurden. Es wäre falsch, diese Technologieführerschaft einzutauschen gegen einen batteriebetriebenen Elektromotor, der selbst mit großen, auch ökologischen, Problemen behaftet ist.

Was angebliche große Fortschritte bei Verbrennungsmotoren angeht: Selbst brandaktuelle Diesel­modelle halten die Werte nicht ein.

Theurer: Nach einer Untersuchung der Landesanstalt für Umweltschutz stammen an der notorischen Kreuzung am Neckartor in Stuttgart nur sieben Prozent des Feinstaubs aus dem Auspuff, über 30 Prozent stammen von Reifen- und Bremsenabrieb, der auch bei Elektroautos entsteht, und über 50 Prozent stammen aus den Heizungen.

Feinstaub ist nicht das Thema. Nicht eingehalten werden die Werte für Stickoxide, die zu beherrschen offensichtlich nach wie vor ein Problem für Autohersteller ist.

Theurer: Die Stickoxidproblematik stellt sich bei Dieselmotoren stärker als bei Benzinmotoren. Insofern müssen hier die Anstrengungen, technologische Lösungen zu finden, absolut verstärkt werden.

Die Batterien für möglicherweise Abermillionen Elektrofahrzeuge sind problematisch in der Herstellung. Stichwort etwa Seltene Erden, um die bereits jetzt ein Verteilkampf herrscht. Viele der Rohstoffe werden auch unter mehr als problematischen Umweltbedingungen und sozialen Bedingungen abgebaut. Alles kein Problem?

Theurer: Die Nachteile des Dieselmotors sind in aller Munde, die Probleme der Lithium-Ionen-Batterie nicht. Richtig ist, dass beim Abbau des Lithiums etwa in der Atacama-Wüste ein negativer CO2-Fuß­abdruck entsteht, auch die Entsorgungsfrage ist ungeklärt. Wir fordern als Freie Demokraten deshalb, dass es keine einseitige Fokussierung auf das mit Lithium-Ionen-Batterien betriebene Elektroauto gibt. Wir müssen technologieoffen alle Antriebsarten untersuchen. Also eben auch synthetische Kraftstoffe, die Brennstoffzelle und den optimierten Verbrennungsmotor.

Was geschieht, wenn China eine Elektroauto-Quote vorgibt?

Theurer: Dies wäre ein massiver handelspolitischer Eingriff, der von der Europäischen Union nicht unbeantwortet bleiben darf.

Zur FDP: Sie rüsten sich für die Rückkehr in den Bundestag. Was war im Rückblick der größte Fehler, dass es 2013 nicht mehr geklappt hat?

Theurer: Der größte Fehler war die enge Anlehnung an die CDU bis zur Ununterscheidbarkeit. Zentral wichtig ist deshalb: Die Freien Demokraten werden in keine Regierung mehr eintreten, wenn nicht wesentliche Inhalte unseres Programms in praktische Politik umgesetzt werden können.

Die FDP wurde im Bund wie auch zuletzt vor 2011 im Land als Anhängsel der CDU empfunden. Hat sich innerhalb der Partei daran viel geändert? Viele Akteure sind doch noch die gleichen.

Theurer: Die Neupositionierung der Freien Demokraten hat bedeutet, dass wir die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben. Baden-Württemberg ist hier der Glaubwürdigkeitsanker der FDP. Wir haben nach der Landtagswahl gezeigt, dass wir ohne Aussicht auf Umsetzung der wesentlichen Inhalte eben nicht in die Regierung gehen. Wir wollten den Politikwechsel, der war mit Grün-Rot nicht zu machen, deshalb sind wir im Land in der Opposition.

Vor kurzem wurde berichtet, dass die FDP von Großspendern aus der Wirtschaft überproportional viel Geld bekommen hat, gegenüber SPD und Grünen beispielsweise zusammen ein Vielfaches. Schadet Ihnen dies im Wahlkampf, erinnert sei etwa an 2013 und die Spenden von Hoteliers?

Theurer: Fakt ist, dass die Grünen etwa im Landtagswahlkampf von den Metall-Arbeitgebern eine größere Spende erhalten haben als die Liberalen. Richtig ist auch, dass wir als Partei wie andere Parteien auch auf Spenden, Mitgliedsbeiträge und ehrenamtliches Engagement angewiesen sind. Die Rechtslage ist eindeutig, diese Spenden dürfen angenommen werden. Aber sie müssen veröffentlicht werden. Damit kann jeder Bürger sehen, wer welcher Partei wie viel gespendet hat.

In Koalitionsfragen hat die FDP Lockerungsübungen hinter sich. Schwarz-Grün-Gelb in Kiel, Rot-Grün-Gelb in Mainz. Wie steht es mit Dreierbündnissen im Bund?

Theurer: In Rheinland-Pfalz die Ampel, in Schleswig-Holstein Jamaika, Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg die Opposition. Dies zeigt, dass die neue FDP die Inhalte in den Vordergrund rückt. Wir schließen auch Dreierbündnisse nicht von Vornherein aus. Unsere Kernforderungen werden wir bei einem Wahlparteitag am 17. September in Berlin festlegen.

Eine Frage an den scheidenden Europapolitiker: Nach der Wahl von Emmanuel Macron in Frankreich scheinen die existenziellen Probleme wie im Fall der Wahl von Marine le Pen zunächst passé. In Ungarn oder Polen geht der Abbau des freiheitlichen Rechtsstaats aber munter weiter, die Briten scheiden aus. Was muss in Europa geschehen?

Theurer: Besorgniserregend ist, dass in einigen Ländern die politischen Extreme auf der Linken wie in Spanien oder Griechenland oder auf der Rechten wie in Ungarn oder Polen an Bedeutung gewonnen haben. Das Signal aus den Niederlanden und vor allem die Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten von Frankreich zeigt aber, dass der Aufstieg der Rechtspopulisten nicht unaufhaltsam ist. Europa braucht, um es mit Macron zu sagen, einen Aufstand der Gemäßigten. Wenn die Demokraten zuhause bleiben, dann kommt die Diktatur. Wenn die Menschen aber die Mitte stärken, dann sind neue politische Bündnisse möglich.

Mit der Losung „German Mut“ ist die FDP zweifellos auf dem Weg zum zweisprachigen Land unterwegs, was soll die Parole denn konkret heißen?

Theuer: Der digitale Tsunami ist in vollem Gang und wir laufen Gefahr, dass weite Teile des Mittelstands hinweggefegt werden. Angst ist ein schlechter Ratgeber, deshalb plädieren wir unter der Überschrift Mut, dass wir aufwachen aus den Wohlstands-Halluzinationen, uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen und uns beherzt den Herausforderungen der Digitalisierung stellen.

Das Interview führte Hermann Neu.

Zur Person

Michael Theurer war 1995 der jüngste Oberbürgermeister Deutschlands. Der am 12. Januar 1967 in Tübingen geborene FDP-Landeschef war Horber OB bis August 2009. Von 2001 bis 2009 gehörte er außerdem dem baden-württembergischen Landtag an. Theurer absolvierte ab Oktober 1990 in Tübingen ein Studium der Volkswirtschaftslehre, das er kurz nach der Wahl zum OB abschloss. Zuvor machte er ein Zeitungsvolontariat und arbeitete bis zum Beginn seines Studiums einige Monate als Lokalredakteur. Seit 2009 ist Theurer Mitglied des Europaparlaments, nun will er in den Bundestag