Gastbeitrag Focus Online: Warum das deutsche Sozialsystem überholt ist

Gastbeitrag Focus Online: Warum das deutsche Sozialsystem überholt ist

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Besonders Aufstocker werden benachteiligt: Warum das deutsche Sozialsystem überholt ist.

In einem über Jahrzehnte gewachsenen Wust an unterschiedlichsten Sozial- und Steuergesetzen ist es leicht, den Überblick zu verlieren. Dem Bürger wird damit der Blick auf das Wesentliche versperrt.

Denn entscheidend sind für Arbeitnehmer eigentlich nur drei Kenngrößen: Wie viel koste ich den Arbeitgeber (Arbeitgeberbrutto), wie viel landet davon direkt in meiner Tasche (netto) und wie viel bekomme ich extra, wenn ich mehr arbeite – beziehungsweise auf die viel muss ich verzichten, wenn ich weniger arbeite.

Mehr Netto vom Brutto ist ein zentraler Weg, um Menschen mehr Eigenverantwortung – beispielsweise in der Altersversorgung – zu ermöglichen. Je höher der Anteil des Netto, desto mehr Selbstbestimmung erlaubt eine Gesellschaft.
Für die Leistungsfreundlichkeit eines Systems ist die Grenzbelastung, also die Abzüge auf den nächsten verdienten Euro, jedoch mindestens genau so entscheidend. Davon hängt häufig ab, wie viele Wochenstunden gearbeitet werden, ob bezahlte Überstunden geleistet und ob eine Beförderung angestrebt wird.

Bei den Aufstockern herrscht besonders viel Leistungsfeindlichkeit vor

Als besonders abschreckend bekannt ist hier der Mittelstandsbauch bei einem Jahreseinkommen zwischen etwa 40000 und 50000 Euro: Hier werden bereits hohe Steuersätze, aber ebenfalls noch Sozialabgaben bezahlt. Das führt dazu, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Einkommensbereich deutlich mehr als die Hälfte des nächsten verdienten Euros abgeben müssen – oder eben ein weniger verdienter Euro nicht besonders in’s Gewicht schlägt. Das ist ein Problem, das mit einem flacheren Steuertarif, Abschaffung des Soli und der kalten Progression sowie angesichts der vollen Kassen auch niedrigeren Sozialversicherungsbeiträgen gelindert werden könnte.

Es gibt jedoch einen Bereich, in dem eine noch viel größere systemische Leistungsfeindlichkeit vorherrscht: Bei den sogenannten Aufstockern – jenen, die ein Einkommen haben und dann teilweise noch Steuern und Abgaben zahlen. Denn zusätzliches Einkommen wird außerdem noch auf den Transfer angerechnet. Dadurch ist das Netto vom nächsten Euro brutto in diesem Bereich teils noch deutlich niedriger als im Bereich des Mittelstandsbauchs. Die Zuverdienstregelungen sind demotivierend und werfen den Menschen Knüppel zwischen die Beine.

Aufgrund der verschiedenen, nicht aufeinander abgestimmten Systeme kann es sogar noch extremer kommen: Wie das ifo-Institut in einer aktuellen Studie vorrechnet, ist beispielsweise für einen Alleinerziehenden mit zwei Kindern das zusätzliche netto im Bereich zwischen 1700 und 2350 Euro negativ. Im Klartext: Wer mehr verdient, hat am Ende weniger in der Tasche. Purer Wahnsinn!

Es ist Zeit für eine Generalüberholung

Es ist Zeit für eine Generalüberholung: Steuerfinanzierte Sozialleistungen, wie beispielsweise die Regelleistung und die Unterkunftskosten des Arbeitslosengelds II, die Grundsicherung im Alter, die Sozialhilfe zum Lebensunterhalt, der Kinderzuschlag und das Wohngeld, sollten in einer Leistung und an einer staatlichen Stelle zusammengefasst werden.

Das macht es für alle Menschen, die auf die Hilfe der Gesellschaft angewiesen sind, einfacher und lässt sie nicht mehr von Amt zu Amt rennen. Selbstverdientes Einkommen darf nur prozentual und geringer als heute angerechnet werden. Damit wird eine trittfeste Leiter in die finanzielle Eigenständigkeit gebaut. Menschen, die es am Arbeitsmarkt schwer haben, gelingt über eine Teilzeittätigkeit im Rahmen eines Mini- oder Midijobs oft der erste Schritt.

Gerade im Niedriglohnbereich muss es sich wieder lohnen, Schritt für Schritt voranzukommen, um irgendwann finanziell (wieder) ganz auf eigenen Beinen zu stehen!