Kolumne Neckarchronik: Interessante Zeiten

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„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ Was wie ein netter Gruß klingt, ist in Wirklichkeit ein chinesischer Fluch, eine Verwünschung. Wahrlich, wir leben in interessanten Zeiten.

Die Weltlage: Ein US-Präsident Donald Trump, der mit jedem Tag noch wunderlicher zu agieren scheint, ein chinesischer Präsident Xi Jinping, der Weltmachtansprüche unterstreicht, und ein russischer Präsident Vladimir Putin, für den noch heute der Untergang der Sowjetunion die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts ist.

Dazwischen sind wir. Eine Europäische Union, die sich nicht einig ist, wo sie hinwill und keine Vision für das Leben in 50 Jahren hat. Derzeit wird in Brüssel darüber verhandelt, wer die EU zukünftig als Kommissionspräsident anführen soll. Zumindest vorerst geht es dabei vor allem um die Spitzenkandidaten der drei großen Parteienfamilien – Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (S&D) und Liberale (ALDE).

Auch wenn es nicht so scheint, das Wahlverfahren ist im Prinzip simpel: Der Rat der Staats- und Regierungschefs schlägt jemanden vor, das Europäische Parlament kann den Kandidaten bestätigen oder ablehnen.

In der Praxis sollte man logischerweise sicherstellen, dass man in beiden Gremien eine Mehrheit hinter sich bringt – und das ist gar nicht so einfach. Denn bisher hatten EVP und S&D gemeinsam eine Mehrheit und konnten so die Spitzenjobs unter sich aufteilen. Aufgrund der GroKo-Stimmverluste bei dieser Wahl ist dies nicht mehr der Fall, und es könnte zu ganz neuen Konstellationen kommen: Im Rat hat derzeit nur Schwarz-Gelb eine knappe Mehrheit, im Parlament nur Dreierkonstellationen wie Schwarz-Rot-Grün oder Schwarz-Rot-Gelb.

Die Mehrheitsbildung ist also kompliziert, so dass Boulevardmedien bereits zwei Wochen nach der Wahl darüber spotten, dass nichts vorangeht. Gerade so, als sei es in Deutschland so viel einfacher, eine Mehrheit zu finden. Gerade wegen der komplexen Situation könnte jedoch die liberale Bewerberin Margrethe Vestager am Ende die lachende Dritte werden.

Mich würde das enorm freuen – nicht nur, weil ich mit ihr einerseits befreundet bin und andererseits zur Bekämpfung der Steuervermeidung von Großkonzernen eng zusammengearbeitet habe. Sondern weil ich glaube, dass sie mit ihrer positiven, optimistischen, zukunftsgewandten Art dem Europäischen Projekt neues Leben einhauchen könnte. Weil sie nach innen und außen die beste vorstellbare Vertreterin wäre. Und weil sie mit großer Sicherheit in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist: Die linke Tageszeitung taz schreibt: „Googeln Sie diese Frau!“ – weil sie den Mut hatte, sich von Apple bis Gazprom mit jedem anzulegen, der sich nicht an die Regeln hält. Die Süddeutsche betitelt sie als „Die Anständige“, andere nennen sie wegen ihrer Durchsetzungskraft „eiserne Lady“. Vor allem ist sie eine jener politischen Ausnahmeerscheinungen, mit denen man sich noch völlig normal unterhalten kann. Unprätentiös. Diese Mischung wäre es, die ein vereintes, bürgergetriebenes Europa hervorbringen könnte, mit einer positiven Zukunftsvision und einer gemeinsamen Vorstellung von seiner Rolle in der Welt. Ich wünsche es mir.